Die imaginäre Tonlupe
Begleittext zum 1. Streichquartett
- Der Ablauf dieses Quartetts ist im wesentlichen durch den Wechsel zwischen metrisch fixierten und metrisch ungebundenen Abschnitten geprägt.
- Ein wesentliches Element des Zusammenspiels ist das "ungenaue Unisono", d.h. die Instrumente spielen denselben Tonhöhenverlauf, aber mit (leicht) verschiedenen rhythmischen Gestalten. Im Kontrast mit einem tatsächlichen, "genauen" Unisono möchte ich diese Bewegungsform mit "verschwommenem" und "scharfen" Sehen in der optischen Wahrnehmung vergleichen.
- Einige Ausschnitte sind eine Art (gedachte) mikroskopische Vergrößerung anderer Teile. Durch eine imaginäre "Tonlupe" werden einzelne Töne zeitlich gedehnt und bekommen so eine im Originalzustand nicht beobachtbare neue Struktur (so ist z.B. der Beginn des Quartetts eine solche Vergrößerung des Schlußpassage). In diesem Zusammenhang möchte ich auf den Gebrauch der Teiltöne in diesem Stück hinweisen: Ich sehe sie als eine Art farbliche Abspaltung des zugehörigen Grundtones, so wie ein weißer Lichtstrahl sich in die Spektralfarben auffächern läßt.
- Die längere Generalpause in der Mitte des Stücks ist für mich eine Art Innehalten, sodaß der folgende Teil wie ein Neubeginn wirkt - wie ein zweiter Versuch, ans Ziel zu kommen.
- Dieses Ziel ist der Schlußabschnitt, den ich als ersten komponiert habe. Er ist mit "Sehr rasch: atemlos, aggressiv, rauh; sempre fff" überschrieben. Ich stelle mir dazu ein Gespräch vor, für das nur noch wenig Zeit bleibt und bei dem alle versuchen, mit Vehemenz noch alles das zu sagen, was vorher unbesprochen blieb. Bei diesem Ende ist die erste Geige das Instrument mit dem längsten Atem – sie beschließt das Stück mit einem Solo in der hohen Lage.